V. Kumar u.a. (Hrsg.): Antisemitismen. Sondierungen im Bildungsbereich

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Titel
Antisemitismen. Sondierungen im Bildungsbereich


Herausgeber
Kumar, Victoria; Dreier, Werner; Gautschi, Peter; Riedweg, Nicole; Sauer, Linda; Sigel, Robert
Reihe
Antisemitismus und Bildung
Erschienen
Frankfurt am Main 2022: Wochenschau Verlag
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerald Lamprecht, Centrum für Jüdische Studien, Karl-Franzens-Universität Graz

Seit Jahren ist eine stetige Zunahme des Antisemitismus in all seinen unterschiedlichen Ausprägungen bis hin zur physischen Gewalt gegen Personen und zu terroristischen Anschlägen auf jüdische Einrichtungen festzustellen. Auch im Zuge der Demonstrationen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie konnte erschreckend beobachtet werden, dass in Zeiten der Krise scheinbar überwundene antisemitische Stereotype und Vorurteile ebenso wie Verschwörungsmythen als Welterklärungsansätze für viele Menschen reaktiviert werden können und problemlos Teil gesellschaftlicher und politischer Diskurse werden. Nicht selten fand dabei durch Covid-Leugner:innen und Maßnahmengegner:innen auch eine falsche Bezugnahme auf den Holocaust und damit dessen Verharmlosung und Verzerrung statt. Weiters evozierten Ereignisse im Nahostkonflikt unterschiedlichste Formen eines israelbezogenen Antisemitismus, der sich nicht selten aus Motiven der Schuldabwehr und einem vermeintlichen Antiimperialismus speist.

Politiker:innen und Verantwortungsträger:innen distanzierten und distanzieren sich bei all diesen antisemitischen Vorfällen und Übergriffen sogleich in öffentlichen Stellungnahmen und bemühen gleichsam reflexhaft das historische Lernen aus der Vergangenheit (idealerweise in Form von Gedenkstättenbesuchen) ebenso wie die Verantwortung der Bildungsinstitutionen im Kampf gegen den Antisemitismus. Unterstrichen wird dieses durch ein in der Form bislang nicht gekanntes politisches Engagement gegen den Antisemitismus durch die Installierung von Antisemitismusbeauftragten ebenso wie im Fall Österreichs durch die Verabschiedung einer nationalen Strategie gegen Antisemitismus. Erste Ergebnisse dieser umfassenden Bemühungen sind Leitfäden und Handbücher für den Umgang mit Antisemitismus im Bildungsbereich ebenso wie konkrete Unterrichtsmaterialien und Handreichungen für Schulen und Lehrpersonen.

In diesem mittlerweile ausdifferenzierten Feld der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit ist auch die empfehlenswerte Publikation Antisemitismen. Sondierungen im Bildungsbereich zu verorten. Sie ist das Ergebnis eines innovativen Forschungsprojektes, das von den im Feld renommierten Einrichtungen erinnern.at (Österreich), Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der Pädagogischen Hochschule Luzern (Schweiz) und Geschäftsstelle des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben gegen Antisemitismus (Bayern) mit der Förderung von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) durchgeführt wurde.

Das im Buch dokumentierte Projekt beschritt in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Holocaustleugnung und -verzerrung (Distortion) im Bildungswesen insofern Neuland, als einerseits Antisemitismus und Holocaustleugnung/-verzerrung zusammen gedacht und andererseits die Expertisen und Erfahrungen von zahlreichen Expert:innen eingeholt wurden, die im Aus- und Weiterbildungsbereich von Lehrpersonen, der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit und Antisemitismusforschung tätig sind. Diese insgesamt 23 Personen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz kommen in ausführlichen Leitfrageninterviews zu Wort und eröffnen einen spannenden, dichten und multiperspektivischen Blick auf das Thema und Feld in den drei Ländern. Es sind Historiker:innen, Geschichtsdidaktiker:innen, Expert:innen der politischen Bildung, Religionspädagog:innen, Erziehungs- und Bildungswissenschafter:innen, Vermittler:innen sowie Sozial-, Literatur-, Sprach-, Religions- und Politikwissenschafter:innen, die an Universitäten und Hochschulen forschen und unterrichten. Die insgesamt acht Interviewfragen beziehen sich auf Berührungspunkte und Erfahrungen mit Antisemitismus im jeweiligen persönlichen und beruflichen Umfeld, den Umgang mit und die Bedeutung von Antisemitismus im Kontext Schule, mögliche Präventions- und Interventionsmaßnahmen in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen sowie abschließend einer ganz persönlichen Einschätzung zur Zukunft des Antisemitismus.

Auffallend ist dabei, dass alle Interviewten ihrer Arbeit spezifische Definitionen von Antisemitismus zu Grund legen und damit die Breite und Vielgestaltigkeit des Antisemitismus zeigen. Weiters zieht sich durch alle Antworten die Frage nach der Einordnung von Antisemitismus im Spannungsverhältnis von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Rassismus, Antiziganismus, Sexismus, Homophobie, antimuslimischem Rassismus und Islamophobie. Ebenso wird stets die Differenzierung zwischen israelbezogenem Antisemitismus und legitimer Kritik an der Politik des Staates Israel problematisiert. Die Antworten sind entsprechend der unterschiedlichen Akzentsetzungen im jeweiligen Forschungs- und Berufsumfeld vielfältig; dadurch eröffnen sie einen überaus interessanten Blick auf aktuelle und multidisziplinäre Zugänge in der bildungsbezogenen Auseinandersetzung mit dem Thema.

Trotz der unterschiedlichen Zugänge und Schwerpunktsetzungen finden sich auch einige Übereinstimmungen in den Interviews. Zunächst ist das die Forderung, wonach ein erfolgreicher Kampf gegen den Antisemitismus stets gesamtgesellschaftlich geführt werden muss und auch im Bildungsbereich nicht bloß anlassbezogen und punktuell in einzelnen Unterrichtsfächern geführt werden darf und kann. Es braucht, so die Expert:innen, eine strukturelle Verankerung der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit in den allgemeinen Lehramtscurricula und im Schulsystem in Form von Meldestellen und klar kommunizierten Prozeduren im Anlassfall. In diesem Kontext wird auch einhellig angemerkt, dass der derzeitige schulische Anknüpfungspunkt in der Beschäftigung mit dem Antisemitismus beim Thema Nationalsozialismus und Holocaust zwar weiter unerlässlich ist, es aber darüber hinaus von zentraler Bedeutung ist, die lange Geschichte und tiefgreifende gesellschaftliche Verankerung des Antisemitismus in der europäischen Geschichte und Kultur seit der Antike ebenso wie in der Gegenwart der europäischen Gesellschaften zum Gegenstand zu erheben. Nicht zuletzt sollten auch die Schulbücher als „inoffizielle Lehrpläne“ darauf Rücksicht nehmen. Weiters wird übereinstimmend festgestellt, dass bisherige Aus- und Weiterbildungsprogramme stets eine kleine Gruppe von Interessierten erreichen, große Teile der Akteur:innen im Bildungsbereich aber unberührt bleiben. Daraus ergibt sich die Forderung, dass es eine fundierte Ausbildung ebenso wie Sensibilisierung aller Lehrpersonen braucht und daher bei den Universitäten und Hochschulen anzusetzen ist. Schließlich wird es als unerlässlich angesehen, die Perspektive und Erfahrungen der von Antisemitismus Betroffenen ernst zu nehmen und in die Arbeit einzubeziehen.

Gerahmt werden die Interviews von einer fachkundigen Einführung der Herausgeber:innen und einem nachgereichten, persönlich gehaltenen Essay von Robert Sigel sowie Thesen und Handlungsempfehlungen, die sich für die Herausgeber:innen aus den Interviews ergeben. Die Einführung befasst sich mit der Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus ebenso wie dem Antisemitismus im Bildungsbereich und dem Umgang damit. Weiters wird das Projektdesign vorgestellt und schließlich auch die Policy der projektdurchführenden Organisationen transparent kommuniziert. Ein Aspekt, der nicht zuletzt durch die hohe politische Aufladung des Themenfeldes in den letzten Jahren von zentraler Bedeutung ist.

Die aus den Interviews extrahierten Thesen und Handlungsempfehlungen zum „Konzept“ Antisemitismus unterteilen sich in „Kontext und Rahmungen“, „Lehrpersonen“, „Schule“, „Lehrer:innenbildung“, „Case-Management“, „Institutionelle Rahmenbedingungen“, „Fortlaufende Qualifizierung“ (16 Thesen) und „Angebote in der Lehre“, „Berufsethische Erwartungen an Studierende“, „Case-Management der Hochschule“ und „Hochschulinterne Ansprechperson zum Umgang mit Antisemitismus“ (vier Handlungsempfehlungen für Hochschulen mit Lehrer:innenbildung). Thesen und Handlungsempfehlungen werden als Anregung für den möglichen Umgang mit Antisemitismus sowie die Verzerrung und Leugnung des Holocausts verstanden und legen den Fokus auf Prävention und Intervention. Zugleich sind sie so vielfältig und ausdifferenziert, dass sie trotz ihrer Relevanz und Nachvollziehbarkeit auch eine der zentralen Problematiken im konkreten bildungspolitischen Umgang mit Antisemitismus wie auch in der konkreten Arbeit in Schulen offenkundig werden lassen. Nämlich die Frage, wie auch die sehr konkreten Handlungsempfehlungen in strukturkonservative Institutionen wie Universitäten, Hochschulen und Schulen integriert werden können. Zudem treffen diese auf eine überaus heterogene Universitäts- und Hochschullandschaft ohne einheitliche Lehramtscurricula, deren Änderungen meist Kompromisse zwischen vielen beteiligten Akteur:innen darstellen, die letztlich alle von der Notwendigkeit der Implementierung antisemitismuskritischer Bildungsangebote überzeugt werden müssen. Dies ist eine Herkulesaufgabe, wobei ein möglicher Ansatz mit dem Anschluss an die Demokratie- und Menschenrechtsbildung aufgezeigt wird, der wiederum Verknüpfungen zur Erinnerungsarbeit und Holocaust Education möglich macht.

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